R.Y.C

R.Y.C

Auf seinem gleichnamigen Debüt lotete Alex Crossan alias Mura Masa 2017 die Schnittstellen zwischen dem Clubsound des Londoner Undergrounds und den Popbefindlichkeiten des Mainstream aus. Das Album war das Resultat einer Vielzahl neuer Eindrücke. Der damals 21-Jährige war aus seinem Heimatort Castel auf der Kanalinsel Guernsey in die britische Metropole gezogen und fühlte sich überwältigt von der innovativen und kulturell vielfältigen Clubszene. Mit seinem zweiten Album „R.Y.C“ vollzieht Crossan nun eine Kehrtwende nach innen. Die elf Stücke spiegeln seine eigene gedankliche Auseinandersetzung mit der Einsamkeit und geistigen Zerrissenheit seiner Generation wider. „Mir fiel dieser Trend auf, Nostalgie als Bewältigungsmechanismus zu nutzen“, erklärt er im Interview mit Apple Music. „Heute ist fast jeder Film eine Neuauflage oder eine Fortsetzung. Und es gibt diese ganzen Memes über Kids der Neunziger. Ich ertappe mich selber oft dabei, wie ich gerne in der Vergangenheit schwelge. Ich sehe mir alte Filme an und treffe mich mit Freunden aus meiner Kindheit, um über alte Zeiten zu sprechen. Irgendwann habe ich mich gefragt, wie Nostalgie wohl klingen würde.“ Bevor Crossan zur elektronischen Musik kam, war er Gitarrist in verschiedenen Punk- und Metalbands. Auf „Raw Youth Collage“ verbindet er diesen Einfluss aus seiner Vergangenheit mit der Gegenwart, indem er mit angesagten Musikern wie Clairo, Georgia und slowthai kooperiert. „Ich wollte mit Leuten zusammenarbeiten, die es schaffen, ihre eigenen Lebenserfahrungen in sensible Musik umzusetzen“, unterstreicht Crossan. „Und ich möchte ein Teil dieser Indie-/Alternative-Szene sein“, fügt er hinzu. Im Track-by-Track beleuchtet er, wie er mit diesem Ziel im Hinterkopf sein Album angegangen ist. Raw Youth Collage „Als ich anfing, darüber nachzudenken, wie nostalgische Indie-/Emo-Gitarrenriffs wohl klingen müssten, waren die Gitarren- und Bassparts dieses Stücks das Erste, was mir dazu einfiel. Ich fragte mich, welche Akkorde mich wohl in diese Stimmung versetzen könnten. Das Riff hatte ich schon vor zwei Jahren aufgenommen. Allerdings dauerte es ziemlich lange, bis mir auch die Worte dazu einfielen. Sie haben dem ganzen Album dann auch seine thematische Richtung vorgegeben. Es mag ein wenig pseudo-spirituell klingen, wenn ich sage, dass mir der Titel spontan zugeflogen ist, aber genau so war es. Diese drei Worte machten mir klar, dass ich über Nostalgie und Realitätsflucht schreiben wollte. Für mich ist ‚Raw Youth Collage‘ so etwas wie ein Flickenteppich aus glücklichen und traurigen Erinnerungen. Sie müssen nicht unbedingt genau der erlebten Wirklichkeit entsprechen, aber sie prägen die Sicht, wie wir die Welt sehen.“ No Hope Generation „Ich habe mir ‚Disorder‘ von Joy Division angehört und mag es wirklich, wie der ganze Song um den Basslauf und den Gesang herum gebaut ist. Ich wollte einen hymnischen Song für eine Generation schreiben, die sich verloren fühlt. Ich bin 23 und glaube, dass viele Leute in meinem Alter wenig Hoffnung empfinden. Dies allerdings in einer augenzwinkernden, post-ironischen Weise, in der es fast schon wieder witzig ist, dass man gemeinsam Trübsal bläst. Es ist schwarzer Humor. Wir sitzen alle im selben Boot, worin aber auch Trost steckt. Gleichzeitig geht es in dem Text aber auch darum, dass man seine Augen nicht mehr von seinem Smartphone lassen kann, sich schlecht fühlt und Hilfe braucht.“ I Don't Think I Can Do This Again (feat. Clairo) „Zufälligerweise war ich im selben Studio, in dem Claire Cottrill mit Rostam Batmanglij an ihrem Album ‚Immunity‘ arbeitete. Sie spielte mir einige Stücke vor und ich hatte das Gefühl, dass sie genau auf einer Wellenlänge mit den Sachen lagen, über die ich auch schreiben wollte. Claire ist Teil der aufkeimenden US-Indie-Szene, die durch Bandcamp und Twitter geprägt ist. Also diese Übergangsräume im Internet, die so etwas wie digitale DIY-Treffpunkte sind. Ich fand es gut, dass die erste Hälfte des Albums einen amerikanischen Einfluss hat, denn in der zweiten Hälfte wird es wirklich ziemlich britisch.“ A Meeting at an Oak Tree (feat. Ned Green) „Das Album sollte ein paar eigenwillige Kanten haben. Und ich denke, dass Spoken Word als Gegenreaktion auf den allzu glattpolierten Autotune-Pop in den nächsten Jahren immer mehr an Bedeutung gewinnen wird. Ned ist Sänger in einer fantastischen Band namens Legss. Und er ist ein Dichter. Irgendwann waren wir zusammen Bier trinken und ich fragte ihn, ob er Lust hätte, einen Text auf dem Album zu sprechen. Ich hatte allerdings keine Ahnung worüber. Dann gingen wir ins Studio, ich schaltete das Mikro an und sagte zu ihm: ‚Erzähl mir eine Geschichte über etwas, das dir passiert ist.‘ Was man hier hört, ist also eine frei improvisierte Erzählung. Ich denke, dass trotzdem jeder etwas damit anfangen kann. Musikalisch hat das Stück diese Emo-Kulisse mit Riffs, die nach American Football oder amerikanischem Fernsehen klingen. Nach Bands, die ich als launischer Teenager auch gehört hätte.“ Deal Wiv It (feat. slowthai) „Meine Freundin und ich hatten uns ‚Peaches‘ von The Stranglers angehört. Der Song hat diese typische Punk-Großspurigkeit. Der Sänger singt nicht ganz, spricht aber auch nicht. Er rappt schon mehr und erzählt dabei eine Geschichte. Das ist richtig authentischer Punk. Meine Freundin sagte: ‚slowthai sollte auch mal so einen Song machen.‘ Und ich antwortete sofort: ‚Oh ja, absolut! Großartige Idee! Und ich werde derjenige sein, der den Song mit ihm macht.‘ Einige Monate später habe ich Ty (slowthai) den Stranglers-Song vorgespielt. Anschließend startete ich ein Loop und ermutigte ihn dazu, sich nicht an irgendeine feste Struktur zu halten. Über zwanzig Minuten attackierte Ty dann ohne Pause alles und jeden. In dem Text geht es darum, dass dich jemand darauf aufmerksam macht, dass du dich verändert hast. Und du denkst dir dann, dass das ja im Leben auch so sein sollte.“ vicarious living anthem „Ich wollte einen Song über Instagram schreiben, ohne dabei allzu deutlich zu werden. Im Text gibt es die Zeilen: ‚I just want to be someone else. I don't want to be here by myself. And anyone could be who they want to be.’ Das sind die Gefühle, die Leute meines Alters empfinden, wenn sie zwei, drei Stunden am Tag dort rumscrollen. Musikalisch ist dies in eine Art lärmender Pop-Punk verpackt. Ich wollte, dass es wirklich laut und nervig ist und dabei im Unterton Angst mitschwingt.“ In My Mind „Dieses Stück steht für den weniger auf Gitarrespielen fixierten Teil meiner Kindheit. Die Zeit, als ich Clubkultur und Dance Music nur aus sehr weiter Ferne wahrnehmen konnte. Ich bin an einem ziemlich abgelegenen Ort ohne Clubs oder DJ-Kultur aufgewachsen. Bis ich 14 oder 15 war, wusste ich noch nicht mal, um was es sich bei elektronischer Musik handelt. Mit diesem Song versuche ich, mich in die Erfahrungen anderer Menschen einzufühlen. Also auch in Zeiten, die vor meiner Geburt liegen, wie zum Beispiel die Anfänge der Rave-Kultur in den späten Achtzigern und frühen Neunzigern. Ich habe mir vorgestellt, wie es wohl damals war, in einem dieser Clubs gewesen zu sein und zum ersten Mal diese psychedelische Euphorie zu spüren.“ Today (feat. Tirzah) „Wenn man Tirzah kennt, dann kennt man sie wirklich. Wenn man ihre Musik hört, wird man zu einem großen Fan. So wie ich. Ich bin diese Zusammenarbeit sehr behutsam angegangen. Fast schon wie auf Zehenspitzen. Ich wusste, dass sie normalerweise nur mit Leuten aus ihrem eigenen Kreis arbeitet, und ich wollte sicher sein, dass sie sich wohlfühlt. Wir haben uns auf einen Tee getroffen und dabei sehr lange über die Themen des Albums gesprochen. Nach einer Weile wurde sie offener. Sie begann über ihre Kindheit zu sprechen, über den Ort, an dem sie aufgewachsen ist, und solche Sachen. Ähnlich wie ‚Deal Wiv It‘ basiert auch dieser Song auf einem zehn- bis fünfzehnminütigen frei improvisierten Gedankenfluss, den wir anschließend in Songform gebracht haben.“ Live Like We're Dancing (feat. Georgia) „Georgia und ich teilen das Interesse an einer besonderen Art von Dance Music. Es sind diese euphorischen, europäischen House-Tracks, wie sie in den frühen 2000er-Jahren bei Labels wie Clubland oder Ministry Of Sound erschienen. Stücke, die ein bisschen das Feeling von ‚Call On Me‘ von Eric Prydz haben. Sie haben immer einen positiv-idealistischen Text, der meistens von jemandem geschrieben wurde, der kein englischer Muttersprachler war. Aber diese Worte sagen immer genau das, was sie auch sagen sollen. Deshalb werden sie immer und immer wiederholt. Ich glaube, mir ist die Zeile ‚live like we’re dancing‘ eingefallen. Davon ausgehend haben wir dann versucht, das Stück so unschuldig und rein wie möglich zu halten.“ Teenage Headache Dreams (feat. Wolf Alice) „Meine Freundin hat mir mal zu Weihnachten ein Harmonium gekauft. Das ist so etwas wie eine kleine Orgel, die durch ein Gebläse betrieben wird. Diesen Sound kann man zum Beispiel auch auf Radioheads ‚Motion Picture Soundtrack‘ hören. Ich hatte an diesem Song schon sieben, acht Monate gearbeitet, ohne dass ich ihn fertig bekam. Mir war einfach nicht klar, was noch fehlte. Es stellte sich dann heraus, dass er nur noch zwei Dinge brauchte: Ellie Rowsell, die eine brillante Texterin ist, und diese raffinierte Stelle in der Songmitte, an der er langsamer wird. Ich wollte, dass der letzte Track diesen starken Moment durchgeknallter klanglicher Garstigkeit hat. Denn so fühlt man sich ja irgendwie auch als Teenager.“ (nocturne for strings and a conversation) „Wenn man über sein bisheriges Leben nachdenkt oder mal in die Vergangenheit abtaucht, dann gibt es immer diese seltsamen melancholischen Momente, in denen man wieder zurück in die Gegenwart kommt. Das ist zumindest meine Erfahrung. Man verspürt diese zuckersüße Wehmut: ‚Hm, ich bin wieder hier und weiß nicht so recht, was ich davon halten soll.‘ Ich wollte das Album mit einer Art Geschmacksreiniger beenden. Das Stück hat dieses nette Gitarrenthema, bei dem ich mich wirklich nicht mehr daran erinnern kann, wann es mir eingefallen ist. Im Hintergrund hört man mich, wie ich über die Themen des Albums spreche. Ich hatte mich von einem meiner Freunde interviewen lassen, um mir darüber klar zu werden, was ich mit dem Album erreichen will. Ein paar Audio-Schnipsel davon habe ich dann in den Song eingearbeitet. Letztlich denke ich: Wenn der Weg zu mehr Zuversicht, in die Zukunft und ins Glück über ein bisschen Realitätsflucht führt, dann kann das eine gute Sache sein. Allerdings sollte sie einem dabei helfen, sich weiterzuentwickeln. In Zeiten, die in sozialer, politischer und ökonomischer Hinsicht fordern, ist Nachdenken wichtig. Sich vorzustellen, dass vieles einfacher sein könnte oder dass die Menschen glücklicher sein könnten, ist heute wichtig.“

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