Einmal Dragqueen sein

Einmal Dragqueen sein

Julians Selbstversuch

Warum verkleiden sich Männer als Frauen? Warum müssen Dragqueens so bewusst provozieren? Ist das der richtige Weg, um für Akzeptanz zu werben? Fragen, auf die ich eine Antwort suchte, indem ich selbst zur Dragqueen wurde.

CSD-Saison! Das heißt, jedes Wochenende findet in irgendeiner anderen Stadt eine bunte Parade statt, bei der auf die Rechte von Schwule, Lesben, Transgender und viele mehr aufmerksam gemacht wird. Gute Sache. Ich war auch schon auf einigen Christopher Street Days und habe mitgefeiert. Doch immer wenn die Dragqueens in ihren schrillen Outfits über die Demo liefen, war ich einerseits maximal fasziniert (wie scharf und was für ein Aufwand!), andererseits genervt (muss ausgerechnet das das Bild sein, das alle von CSDs im Kopf haben?). Ich bin selbst schwul, mache daraus aber auch kein Riesenthema. Wozu auch? Und dann das Gegenteil dazu: die Dragqueens. Sie schreien in ihrem Outfit allen entgegen: ich bin anders! Das nervt mich jedes Mal, denn ich will zeigen, dass Schwule nicht auffällig und anders sein müssen. Ein Clash der Gedankenwelten.
Also warum nicht mal versuchen in die Gedankenwelt der anderen Seite zu schlüpfen und Vorurteile abbauen? Also her mit den Silikonbrüsten und dem Glitzermakeup! Lasst mich für einen Tag selbst Dragqueen sein.


Die Verwandlung in mehreren Schichten

dragselbstversuch step1Da sitze ich also auf einem Stuhl in Roberts Keller. Manche kennen ihn besser als Chantal Gpunkt. 30 Jahre Travestieerfahrung, die sich vor allem in seiner Kostüm- und Perückensammlung zeigt. Jeder Frauenkleiderschrank wirkt gegen seine Auswahl wie eine kleine Streichholzschachtel. 30 Quadratmeter begehbare Extravaganz im Kellerabteil.
Los geht’s mit den ersten Schichten Makeup. Puder in die Ohren, an den Hals, auf die Stirn, auf den Mund. Uff. Ganz schön ungewohnt. Vor lauter Anspannung vergesse ich immer wieder das Atmen. Ich beginne zu verstehen, was viele Frauen täglich auf sich nehmen.
Es geht weiter mit den Konturen, Wangenknochen, Nase, Stirn – alles soll richtig betont werden. Als ich zwischendurch in den Spiegel schaue, bin ich mir nicht sicher, ob Robert mich falsch verstanden hat und mich zum Opfer einer Schlägerei umschminkt. Sieht ungewohnt aus. Doch Robert weiß, was er tut. Er spricht etwas von Fixierung, haut mir nochmal mehr Puder ins ganze Gesicht und plötzlich erkenne ich die ersten weiblichen Züge an mir.
Nächster Part: die Augen. Definitiv die persönlich größte Herausforderung. Normalerweise raste ich schon bei Augentropfen aus. Aber jetzt sitze ich da, schaue auf Befehl in die richtige Richtung, öffne und schließe die Augen im Sekundentakt, bekomme künstliche Wimpern und lasse es über mich ergehen. Und irgendwie fange ich an, das Schminken zu genießen. Rund 40 Minuten sind schon vergangen. Wann habe ich mich das letzte Mal so lange mit meinem Gesicht beschäftigt?
Es folgt das Finale: die Lippen. Schicht für Schicht wird aufgetragen. Hier noch ein bisschen größer und da noch ein bisschen Glitzer. Mir wird klar: mit diesem Makeup kann ich nur noch Blicke verteilen, die sagen „Dich zieh‘ ich gleich aus!“.
Ich bin überrascht, wie natürlich sich mein Gesicht noch anfühlt. Trotz mehrerer Schichten Verwandlung, merke ich davon nichts. Lediglich die künstlichen Wimpern zeigen mir, dass Augenlider eine selten trainierte Muskelart sind.



Der Blick in den Spiegel

Um den Look zu vervollständigen zwänge ich mich in einen schwarzen, engen Fummel, tausche die Sneaker durch High Heels Größe 42, bekomme Ohrringe, Schmuck und Perücke auf und Silikonbrüste in den Mädchen-BH. Ich bin verwandelt. Was für ein Aufwand. Rund 70 Minuten hat es gebraucht, bis ich mein komplettes Dragqueen-Ich das erste Mal im Spiegel betrachten kann. In diesem Moment passiert ganz eindeutig etwas in mir. Als ich Robert sagen will, wie begeistert ich bin und mich dabei im Spiegel sehe, bin ich verwirrt. Diese Stimme bin ich, aber die Person im Spiegel nicht. Mein Kopf hat gerade einiges zu verarbeiten.

dragselbstversuch step2

Was es mit mir macht

Ich fange von selbst an sanfter zu sprechen, bewege Arme und Hände bewusster, stehe aufrechter. Ich fange an, die Rolle, in der ich bin, zu mögen. Auch bei mir im Kopf legt sich ein Schalter um. Mein Chef, Donald Trump, mein Opa – egal wer von ihnen vor mir stünde, ich hätte kein Problem, ihnen „Du kleines, versautes Miststück“ an den Kopf zu werfen und am Schlips zu ziehen. Ohja, der Gedanke gefällt mir! Ich verstehe jetzt, warum es Dragqueens braucht.
Sie haben die Narrenfreiheit, die es braucht, den Leuten mal ehrlich die Meinung zu sagen. Ich verstehe, wenn jemand mit ihrem Outfit nichts anfangen kann. Aber ihre Botschaft braucht es. Als ich mich da so stehen sehe, verstehe ich es einfach nicht, warum manche Menschen mich nun am liebsten verprügeln und blutend am Boden liegend sehen würden. Das konnte ich vorher schon nicht verstehen und jetzt noch weniger. Es macht mir eine unangenehme Gänsehaut. Schließlich stecke ja immer noch ich, Julian, 23 Jahre alt, in dem Outfit. Als ich ein Bild von mir auf Facebook poste, meine Freunde mich so sehen, bekomme ich viel positiven Zuspruch. Manche sagen mir aber auch, dass sie damit nichts anfangen können. Das ist okay. Aber ich habe bei denen wenigstens dafür sorgen können, dass sie es mal wahrgenommen haben, darüber nachdenken mussten und sehen, dass es noch mehr abseits von Karohemd, Reihenhaus und Bilderbuchfamilie gibt. Und genau deswegen werde ich den Dragqueens beim nächsten Mal auf dem CSD auch nur noch mit Bewunderung zujubeln. Ihr seid mutig und irritiert positiv die Gesellschaft.

Vielen Dank an Robert aka Chantal Gpunkt, der mir diese Erfahrung möglich gemacht hat.

Bildquelle: egoFM

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