Von Minimalismus-Hype bis Messie-Syndrom

Von Minimalismus-Hype bis Messie-Syndrom

Über unser Verhältnis zu materiellen Dingen

Minimalismus ist im Trend. Aber ist es wirklich "gesund", möglichst wenig zu besitzen? Warum fällt es uns so schwer, uns von Dingen zu trennen und ab wann wird Sammeln eigentlich krankhaft?

Wir haben darüber mit Diplompsychologe und Wissenschaftsjournalist Theodor Schaarschmidt gesprochen. 

Theodor hat seinen Besitz vor einigen Jahren drastisch reduziert - auf sieben gut sortierte Koffer. Heute hat er wieder eine normale Wohnungseinrichtung und ist damit deutlich zufriedener.

  • Theodor Schaarschmidt im Gespräch mit Lola
    Das Interview zum Nachhören

Vor einigen Jahren ist Theodors Zimmer aus allen Nähten geplatzt und sein Besitz hat ihn nur noch frustriert.

Also hat er radikal ausgemistet und sein Hab und Gut auf sieben Koffer reduziert - ein Koffer für jeden Sachbereich seines Lebens.


Behalten hat er nur, was ihm ein gutes Gefühl gegeben und in einen Koffer gepasst hat. Schon nach einiger Zeit hat er aber viele Dinge vermisst und sich nach und nach wieder einen normalen Haushalt zugelegt. Der extreme Minimalismus hat Theodor also nicht glücklich gemacht.

"Ich denke, das war einfach viel zu radikal mit diesen sieben Koffern und ich brauche einfach eine gewisse Grundausstattung an Dingen, um auch frei zu sein. Ich habe gedacht, ich habe mehr Freiheit, wenn ich nur noch diese sieben Koffer habe, aber eigentlich war das Gegenteil der Fall, weil ich dann ständig zu anderen Leuten gehen und mir irgendwas ausborgen oder improvisieren musste." - Theodor Schaarschmidt 

Unser Verhältnis zu Gegenständen

Materielle Dinge helfen uns dabei, unsere Identität aufzubauen und zu prägen. Oft haben Sachgegenstände sogar mehr Einfluss auf uns, als uns vielleicht lieb wäre. Deswegen fällt es uns auch oft schwer, uns von manchen Gegenständen zu trennen. Wir verbinden bestimmte Erinnerungen und Emotionen mit den Gegenständen, wodurch sie weit über den Geldwert hinaus steigen. Da spielt auch der "Besitztumseffekt" mit hinein.

Der Bestitztumseffekt beschreibt eine kognitive Sonderbehandlung von Dingen, die uns selbst gehören. Theodor erklärt das so:

"Wenn etwas mir gehört, dann empfinde ich es automatisch dadurch, dass es in meinem Besitz ist, als wertvoller." - Theodor Schaarschmidt

Deswegen ist das Ausmisten der eigenen Wohnung auch oft ein schmerzhafter und langwieriger Prozess. Um gar nicht erst so viel anzuhäufen, empfiehlt Theodor, sich vor jeder Anschaffung zu fragen, ob die Sache wirklich den Hausstand bereichert.

Er selbst verfolgt zum Beispiel die Regel, dass für jeden neuen Gegenstand gleichzeitig ein alter Gegenstand das Haus verlassen muss. So kann er die Anzahl an Dingen, die er besitzt, konstant halten.


Trotzdem geht er einmal im Jahr seinen ganzen Besitz durch und schaut, was er tatsächlich noch braucht. 


Warum unser Glück auch vom Besitz abhängt

Eine materialistische Lebenseinstellung hat zur Folge, dass man sich glücklicher oder als Mensch wertvoller fühlt, wenn man bestimmte Gegenstände besitzt. Das Problem: Wir leben in einer Gesellschaft, in der das teilweise auch stimmt. Wir brauchen bestimmte Dinge, um ein gutes Leben führen zu können und manche materiellen Dinge machen uns auch tatsächlich glücklicher.

Gefährlich wird es aber, wenn der Materialismus überhand nimmt. Als Stichwort nennt Theodor die symbolische Selbstergänzung: 

"In Momenten, in denen mein ideales Selbst - also wie ich sein möchte - sehr stark auseinanderklafft mit meinem realen Selbst - also wie ich gerade bin - [...] nutzen Menschen Ersatzobjekte, um diese Lücke symbolisch zu füllen." - Theodor Schaarschmidt

Materialist*innen sind also nicht unbedingt die glücklicheren Menschen, obwohl sie sich Dinge anschaffen, um glücklicher zu sein. Immerhin verschwindet die Freude über neue Gegenstände auch wieder schnell, wenn wir sie dann besitzen. Psycholog*innen bezeichnen dieses Phänomen als "hedonistische Tretmühle": Einst besondere Anschaffungen werden schnell zu normalen Alltagsgegenständen und großen Wünschen, die man sich erfüllt, folgen meist schnell schon wieder neue Wünsche.

"Oft bringen Anschaffungen gar nicht das nachhaltige Glücksgefühl, das wir von ihnen erwarten." - Theodor Schaarschmidt

Viele Psycholog*innen empfehlen deshalb auch, mehr in Erfahrungen als in Besitztümer zu investieren. Auch beim Beschenken von anderen können gemeinsame Erfahrungen mehr schaffen, als es Gegenstände könnten. 

Krankhaftes Sammeln

Grundsätzlich ist Sammeln etwas völlig Normales. Problematisch wird es erst dann, wenn ein Leidensdruck damit einhergeht oder Einschränkungen im Alltag entstehen, erklärt Theodor. Eine Bezeichnung dafür, ist das "Messie-Syndrom", eine zwanghafte Neigung, Dinge zu sammeln, die andere Menschen als verbraucht und wertlos ansehen. 

Unter dem Messie-Syndrom leiden ungefähr zwei bis fünf Prozent der Deutschen, allerdings ist es keine klinisch diagnostizierte psychische Störung.


Oft ist das Messie-Syndrom ein Symptom von anderen psychischen Störungen. Es gibt zum Beispiel Überschneidungen bei Menschen, die mit Ängsten, Zwängen oder Depressionen zu kämpfen haben. 


Minimalistischer Lebensstil

Minimalismus als Lifestyle ist kein ganz neues Phänomen, denn Konsumkritik und Postmaterialismus existieren spätestens seit den 70ern auch in Westeuropa. Gerade jetzt erlebt der Minimalismus-Trend aber eine neue Welle. Theodor steht diesem Trend etwas skeptisch gegenüber - eine Bewegung, die von außen wie Protest aussieht, es eigentlich aber nicht ist. 

Minimalismus als bewusster Lebensstil ist vor allem in den westlichen Industrieländern vorhanden, denn Menschen in ärmeren Länder folgen nicht dem Minimalismus-Trend, sondern haben schlicht einfach wenig Dinge, stellt Theodor klar:

"Es als Lifestyle feiern zu können, sich mit wenigen Dingen zu umgeben, das ist eine sehr privilegierte Haltung von einer eher kleinen und urbanen Elite. Und das macht eigentlich auch nur dann wirklich Spaß, wenn man es jederzeit anders haben könnte."  - Theodor Schaarschmidt


Denn wenig Eigentum und knappen Wohnraum zu haben, ist für die meisten Menschen keine reinigende Erfahrung, sondern bittere Realität.


Theodor geht sogar noch einen Schritt weiter und sagt, dass Minimalismus nicht die Abkehr, sondern die nächste Stufe der Konsumkultur ist. 
Denn viele Minimalist*innen besitzen sehr spezielle, gehypte Produkte - einen ganz besonderen Laptop, die beste Küchenmaschine oder das Fahrrad aller Fahrräder. Ganz abgesehen von Trainingsprogrammen, Büchern und Online-Seminaren zum Thema Minimalismus. Theodor findet, dass durch den Minimalismus paradoxerweise ein ganz neuer Konsumfetisch entsteht.


Ausmisten kann natürlich sinnvoll sein, ist aber nicht die Lösung unserer Weltprobleme und Minimalismus als Protestbewegung gegen unsere materialistische Konsumkultur zu sehen, ist auch eher fragwürdig, meint Theodor Schaarschmidt.


Stattdessen wäre es sinnvoller, das, was wir alles besitzen, auch wirklich bewusst wertzuschätzen und wahrzunehmen.

"Besitztümer können uns Freiheit geben, aber sie können uns auch wieder einschränken, wenn es zu viel wird. Deswegen sollten wir uns immer die Frage stellen: Besitzen wir die Dinge, oder ist es eher so, dass die Dinge uns besitzen?" - Theodor Schaarschmidt

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