Wie Reggae die Welt eroberte

Wie Reggae die Welt eroberte

Helmut Philipps im Interview mit egoFM Max

Seit vier Jahren ist Reggae Weltkulturerbe. Denn er spielt, so die Unesco, eine zentrale Schlüsselrolle für die gesamte jamaikanische Gesellschaft und leistet einen wichtigen Beitrag zum internationalen Bewusstsein in Fragen über Ungerechtigkeit, des Widerstandes, der Liebe und Menschlichkeit.

Helmut Philipps ist seit Ende der 70er Jahre Teil der deutschen und internationalen Reggae-Szene. Er ist Journalist, Tontechniker, Produzent, Referent und außerdem Autor. 2007 veröffentlichte er zusammen mit Olaf Karnik das Buch Reggae in Deutschland und im Moment schreibt er an einem Buch über die Geschichte der jamaikanischen Dubmusik.

Die Rolle des Reggae in Jamika

Ende der 70er, als Philipps das erste mal Berührungspunkte mit Dubmusik hatte, war es vor allem dieser komplett neue Umgang mit Studiotechnik, der ihn faszinierte. Das ist aber bei Weitem nicht das Einzige geblieben:
"Die Faszination besteht nicht nur aus einer Sache. Je mehr man das hört, desto mehr packt es einen und dann stellt man ganz viele Sachen fest: Also es ist jetzt nicht nur studiomäßig sehr tricky gearbeitet worden, sondern da steckt ganz viel Emotionalität drin, da steckt ganz viel reales Leben in den Texten. [...] Über kurz oder lang wurde Reggae sozusagen meine emotionale Heimat, weil in dieser Musik alles drin ist. Von Wut, über Spiritualität, über Liebe, über feiern - alles hat seinen Bereich in dieser Musik." - Helmut Philipps
  • Helmut Philipps über Reggae
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Dass in Reggae all das zu finden ist liegt vor allem daran, dass ganz Jamaika Reggae hört.

Wo bei uns nur einzelne Menschen(gruppen) Reggae hören, hört in Jamaika jede*r Reggae, sagt Helmut Philipps. 
"Wenn Independence Day ist [...], dann werden überall, auf allen öffentlichen Plätzen Lautsprecherboxen aufgestellt und dann gehen alle raus. Vom Dreijährigen, der laufen kann bis zum 83-Jährigen, der noch so eben Laufen kann auf drei Beinen mit einem Stock. Und alle bewegen sich zu derselben Musik." - Helmut Philipps

Am sechsten August 2022 ist es 60 Jahre her: 1962 wurde Jamaika unabhängig von Großbritannien. Und nach der Unabhängigkeit bekam der Reggae dann einen ordentlichen Aufschwung. Die Vorläufer wie Jazz und Ska gab es natürlich bereits davor, ab 1962 hat das ganze Land aber ein Gefühl des Aufschwungs verspürt - auch die Musikszene: Es kam zu Studiogründungen, es wurden internationale Kontakte geknüpft und es ist damals einfach eine komplett neue Industrie entstanden. Und irgendwann später ist Jamaika dann im Verhältnis zur Bevölkerungsdichte das Land mit den meisten Schallplattenpresswerken der Welt, erzählt Helmut Philipps. 
"Da kommen dann pro Woche 200 neue Singles raus. Pro Woche - in einem Land, was eine Einwohnerzahl hat wie Hessen." - Helmut Philipp

Millie Small war die erste jamaikanische Künstlerin, die in Deutschland aufgetreten ist.

1964 spielte sie im Hamburger Starclub - von da an waren jamaikanische Popproduktionen erstmals auch in Europa präsenter.



Fun Fact: Damals in Hamburg wurde Millie Small von der von Klaus Doldinger geleiteten Band begleitet. Doldinger hat unter anderem die Tatort-Titelmelodie komponiert und erzählt in dem Buch Reggae in Deutschland, wie er den Auftritt damals erlebt hat. 


Zudem haben viele jamaikanische Migrant*innen den Reggae nach Großbritannien gebracht - und was dort in den Charts ist, kommt heute wie damals meist auch nach Deutschland. So richtig groß wurde Reggae dann aber erst etwas später:

Denn dann kam Bob Marley

Marley hat nach einiger Zeit fast die ganze Welt mit seiner Musik erobert - vor allem auch Deutschland:
"Als er irgendwann das Album Babylon by Bus gemacht hat, [...] da fuhr hier ein englischer Doppelstockbus durch Europa und hat dafür Promo gemacht. Der stand in Dortmund und in Berlin und in Hamburg auf den Marktplätzen und die Leute konnten hingehen und sich das anhören. Als Bob Marley gestorben ist, war das die Top-Meldung in der Tagesschau." - Helmut Philipps

Ab Anfang der 2000er hatten wir auch in Deutschland einen Reggae-Hype und Künstler wie Seeed oder Gentleman waren immer wieder in den Charts. Inzwischen ist das allerdings stark zurückgegangen.

Mit der Digitalisierung und Internationalisierung der Musik kam die Frage auf, ob das noch Reggae ist.

Und auch heute, wo es im Reggae immer wieder auch Einflüsse aus anderen Genres gibt und Reggae selbst auch neue Genres hervorbringt, entfacht diese Diskussion natürlich erneut.
"Aber es ist einfach eine - wie soll man sagen - pulsierende Musik, die sich ständig auch mit der Zeit verändert." - Helmut Philipps

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