Kettcar: Gute Laune ungerecht verteilt

Kettcar: Gute Laune ungerecht verteilt

Das Album der Woche

Von  Vitus Aumann
Erst auf der 1 in den Charts, dann Album der Woche: Sonst ist die Reihenfolge andersrum, aber hier machen wir gerne eine Ausnahme.

Stellen wir uns die deutsche Musikszene doch mal als Schulklasse vor: Wie würde das aussehen?

Na ja, da gäbe es die Raver um Paul Kalkbrenner, die in der letzten Reihe mit Sonnenbrille sitzen, damit keiner merkt, dass sie noch ihren Rausch ausschlafen müssen. AnnenMayKantereit wären die Typen, die sauer werden, wenn sie als Streber bezeichnet werden, aber irgendwie schreiben sie dann doch jedes Mal den glatten Einser. Tocotronic und Charlotte Brandi wären diese besondere Kategorie, die schon jede Schullektüre gelesen und ständig einen frechen Spruch auf den Lippen hat, während Drangsal und Ilgen-Nur die coolen mysteriösen Außenseiter sind, gefühlt in ganz anderen Sphären unterwegs und ständig die Kippenschachtel im Anschlag. Wo würden den Kettcar sitzen? Wahrscheinlich da, wo sonst der oder die Klassensprecher*in sitzt.

Ziemlich erschöpft vom ganzen Chaos drumherum, aber trotzdem noch mit einem gewissen Gefühl von Autorität – und wenns drauf ankommt, dann eben doch wieder voll und ganz im Hier und Jetzt, wie sie auf ihrer neuen Platte zeigen.


Diskursdeutschrock

Diese Klassensprecheraura hatten Kettcar eigentlich schon lange bevor sie mit "Auch für mich 6. Stunde" eine Schulklassenanalogie provoziert haben: Erst recht mit dem Album Ich vs. Wir wurden die Hamburger dann so etwas wie die moralische Instanz der deutschen Rockmusik. Wirklich gefreut haben sich Marcus Wiebusch und Kollegen wohl nicht über diese Zuschreibung: Schon in der elften Textzeile des Albums gibt es den kleinen Reminder an alle Musikjournalismus-Menschen, sich bei der Kritik doch etwas Neues einfallen zu lassen:
"Unser politischstes Album seit—" / Oh bitte, ich bin ganz kurz eingeschlafen

Okay, streng genommen kann man natürlich sogar streiten, ob Kettcar hier überhaupt so wahnsinnig politisch sind:
Klar, mit "München" gibt's die klare Abrechnung mit Alltagsrassismus, die fast schon gruselig perfekt zu den Demonstrationen für die Demokratie herauskam. Und auch "Doug & Florence" ist ähnlich wie der Albumtitel schon ein dezenter Aufruf zur Revolution. Aber sonst sind die Texte weniger Parteiprogramm als einfach nur Beobachtung der Gegenwart. "Rügen" zum Beispiel zeigt eine verzweifelte Suche nach Glück in Situationen, in denen man per Definition ja doch eigentlich glücklich sein sollte. Und dann ist da noch "Kanye in Bayreuth" – ein Song der die elendige Kunst und Künstler*in-trennen-Debatte natürlich auch nicht beendet, sie aber endlich mal gut klingen lässt. Kettcar sind hier also nicht zwingend politisch unterwegs:

Sie haben aber eben den Blick auf die Dinge, die Welt eben gerade in Atem halten. Und da kann man das Politische eben leider nicht ausklammern.




Müde aber streitlustig

Wer die Gesellschaft so lange im Blick hat wie Kettcar, muss auf die Dauer natürlich auch ein wenig pessimistisch werden. Und ja, Kettcar zeigen sich auf Gute Laune ungerecht verteilt schon erstmal ziemlich müde und nicht gerade hoffnungsvoll – nur um dann sowohl Energie als auch Hoffnung gleich wieder zurückzugeben. Denn auch wenn die Textzeilen mal düster werden, dreschen die E-Gitarrenriffs schnell wieder die Lebensgeister zurück in die erschöpften Körper.

Mit Gute Laune ungerecht verteilt sind Kettcar ihren Klassensprecherruf also nicht so wirklich los geworden – aber sie haben gezeigt, dass der moralische Zeigefinger eigentlich sogar ziemlich gut klingen kann.

Tracklist: Kettcar - Gute Laune ungerecht verteilt

  1. Auch für mich 6. Stunde
  2. München
  3. Doug & Florence
  4. Rügen
  5. Kanye in Bayreuth
  6. Blaue Lagune, 21:45 Uhr
  7. Wir betraten die Enterprise mit falschen Erwartungen
  8. Einkaufen in Zeiten des Krieges
  9. Was wir sehen wollten
  10. Bringt mich zu eurem Anführer
  11. Zurück
  12. Ein Brief meines 20-jährigen ichs

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