"Die Hoffnung war riesengroß"

"Die Hoffnung war riesengroß"

Hasan Gökkaya im Interview

Von  Gloria Grünwald (Interview) | Miriam Fischer (Artikel)
Viele dachten, die jungen Menschen in der Türkei würden die Wahl zugunsten der Opposition entscheiden. Am Ende ging allerdings doch Recep Tayyip Erdoğan als Gewinner aus der Wahl.

Seine Anhänger*innen feiern ihn, die Opposition sprach nach der Stichwahl am Wochenende von der "unfairsten Wahl" aller Zeiten: Erdoğan gewann die Wahl und bleibt Präsident der Türkei. Was hat die jungen Wähler*innen bei der Wahl bewegt und was bedeutet das Wahlergebnis für die Zukunft? Darüber haben wir mit Hasan Gökkaya gesprochen, er hat European Studies an der Universität Hannover mit Schwerpunkt Völkerrecht studiert und arbeitet heute als freier Journalist, unter anderem für den rbb.
  • Hasan Gökkaya im Interview
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Generation Erdoğan

Die Hoffnung auf einen Regierungswechsel war riesig, was vor allem auch an der jungen Generation liegt, erklärt Hasan Gökkaya. Das Durchschnittsalter in der Türkei liegt knapp über 30, zum Vergleich: In Deutschland liegt es fast bei 45. Und fünf Millionen der Türk*innen durften dieses Jahr zum ersten Mal wählen, weswegen man dachte, dass sie die Wahl zugunsten des Oppositionskandidaten Kemal Kılıçdaroğlu entscheiden könnten. Am Ende holte aber Recep Tayyip Erdoğan 52,14 der Stimmen und entschied die Stichwahl für sich.

Was bewegte die (jungen) Menschen in der Türkei also bei der Wahl?

Hasan Gökkaya war in den letzten Wochen vor der Wahl selbst in der Türkei, um von dort zu berichten. Er erzählt, dass die wirtschaftliche Lage ein großes Thema ist: den Menschen in Istanbul fehlt Geld für Alltägliches wie Brot oder Obst und auch die Preise von Alkohol und Tabak sind so hoch, dass es sich viele junge Menschen nicht mehr leisten können.

Auch das schlechte Katastrophenmanagement nach dem Erdbeben im Februar war immer wieder Thema. Deswegen dachten auch viele Analyst*innen und Journalist*innen wirklich, dass die Opposition gewinnen kann, das haben auch Meinungsumfragen angedeutet. 
"Das [Wahlergebnis] zeigt uns auch, dass in der Türkei dieses Thema, ja, Identität, doch eine sehr große Rolle spielt. Also viele, die ihn gewählt haben, sehen in Erdoğan einen starken Leader, einen Mann, wo sie sagen 'er ist einer von uns'." - Hasan Gökkaya

Sie denken, sagt Hasan Gökkaya, dass sie zwar in einer Krise stecken, aber dass Erdoğan die Person ist, die ihnen da raus helfen kann.
"Obwohl die Wirtschaft so katastrophal läuft, obwohl Erdoğan während dieser Erdbeben ja überhaupt kein gutes Bild von sich gezeigt hat, hat er diese Wahl gewonnen. Und das zeigt einfach nur, dass die Menschen [...] - zumindest seine Anhänger - sehr viel auf Stolz und Identität setzen." - Hasan Gökkaya

Aktuell gibt es noch keine Zahlen, welche Altersgruppe wen gewählt hat

Hasan Gökkaya sagt allerdings, man muss davon ausgehen, dass entweder viele der jungen Menschen gar nicht gewählt haben oder aber zumindest nicht so viele von ihnen wie erwartet die Opposition gewählt haben.
"Das lässt eigentlich nur den Schluss zu, dass - zumindest große Teile dieser jungen Bevölkerung - letztendlich doch nicht aus ihren familiären Milieus politisch herausgebrochen sind, sondern am Ende so gewählt haben wie ihre Eltern." - Hasan Gökkaya


Auch fast 70 Prozent der Deutsch-Türk*innen stimmten für Erdoğan

Aber was bedeutet das eigentlich? Hasan Gökkaya ordnet die Zahl ein: In Deutschland leben drei Millionen Deutschtürk*innen, davon ist die Hälfte wahlberechtigt. Es geht also um 1,5 Millionen Menschen, von denen wiederum nur die Hälfte ungefähr überhaupt gewählt hat und von denen wiederum haben eben 70 Prozent Erdoğan gewählt.
"Was wir also wissen ist, etwa 450.000 von drei Millionen Deutsch-Türken haben Erdoğan gewählt. Das ist sicherlich nicht wenig, aber wir wissen eben auch nicht mehr. Wir wissen nicht, wie diese 1,5 Millionen Deutsch-Türken gewählt hätten, die gar nicht wahlberechtigt sind." - Hasan Gökkaya

Nichtsdestotrotz, dass Deutsch-Türk*innen Erdoğan gewählt haben, trifft bei vielen auf Unverständnis - der Vorwurf: Sie leben in Deutschland und genießen die Vorzüge einer Demokratie, unterstützen aber gleichzeitig in der Türkei einen Autokraten.

Diese Kritik kann man äußern und man kann sich auch fragen, warum das so ist, den einen Erklärungsansatz gibt es dabei aber nicht, sagt Hasan Gökkaya. Integrationsforscher*innen sagen, es kann daran liegen, dass Türk*innen in Deutschland Rassismus ausgesetzt sind und Erdoğan sie in ihren Diskriminierungserfahrungen abholt. Ein anderer Erklärungsansatz ist, dass viele Türk*innen, die vor 30 oder 40 Jahren nach Deutschland gekommen sind, vor allem aus den ländlichen Regionen der Türkei stammen - und dort sind die Menschen traditionell eher konservativ und eher nationalistisch eingestellt und finden sich deshalb in Erdoğans Politik wieder. Vermutlich stimmt beides, sagt Hasan Gökkaya.
"Aber wir dürfen nicht vergessen, dass letztendlich die Deutsch-Türken hier sicherlich auch ähnliche Gründe gehabt haben wie die Türken in der Türkei, und zwar, dass sie der Meinung sind, dass ein religiöser, sehr nationalistischer Leader der Richtige ist, um die Türkei - ja, wie sie sagen - irgendwie vor dem Ausland zu schützen." - Hasan Gökkaya


Welche Bedeutung hat das Wahlergebnis international?

Die Türkei ist ein EU-Beitrittskandidat und ein strategischer Partner bei der Flüchtlingspolitik, dass sich an Erdoğans Kurs künftig aber etwas ändern wird, bezweifelt Hasan Gökkaya.
"Ich fürchte, Erdoğan wird seinen Kurs weiterfahren wie jetzt und sich weiter eher von Europa wegbewegen, eher auf Partner zugehen, die hier im Westen ja durchaus kritisch betrachtet werden, also Stichwort Russland, Stichwort Putin. Und sicherlich wird er auch nur noch in Europa anrufen, wenn es irgendwie gerade nicht anders geht." - Hasan Gökkaya

Genau damit kam Erdoğan ja bisher auch ziemlich gut durch. Er hat damit die Wahl gewonnen und auch in der Vergangenheit nie wirklich Sanktionen zu spüren bekommen, im Gegenteil: Eine der ersten Personen, die ihm gratuliert hat, war Bundeskanzler Olaf Scholz, merkt Hasan Gökkaya an. Er sagt, das Einzige, womit Druck auf Erdoğan ausgeübt werden kann, ist tatsächlich das Thema Wirtschaft, denn Erdoğan wurde gewählt und muss jetzt liefern: Er muss die hohe Inflation in der Türkei in den Griff bekommen und dazu braucht er frisches Kapital - und das kann es ohne Investitionen aus dem Ausland nicht geben.

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