Wenn Empathie auf der Strecke bleibt

Wenn Empathie auf der Strecke bleibt

Die Causa Lindemann

Von  Miriam Fischer
Die Debatte um Till Lindemann ist geprägt von frauenverachtenden, empathielosen Kommentaren und ist ein Paradebeispiel für den Umgang mit Opfern sexualisierter Gewalt.


Triggerwarnung: Gewalt, Victim Blaming


Lost in Social Media

Immer mehr Frauen äußern sich zu Rammstein, Till Lindemann, der Row Zero und den Pre- und Aftershow Partys und berichten von ähnlichen Erlebnissen - zuletzt auch Influencerin und YouTuberin Kayla Shyx. Wenn du dich noch nicht so sehr mit dem Thema auseinandergsetezt hast, empfehle ich dir das Video von Kayla Shyx anzuschauen und die Tweets von Shelby Lynn - mit der die ganze Debatte überhaupt erst ins Rollen gekommen ist - zu lesen.

Aktuell vergeht für mich kein Tag mehr, an dem ich mich nicht mit dem Thema auseinandersetze und früher oder später auf Social Media in den Kommentarspalten hängen bleibe. Denn mit jedem großen Beitrag, der das Thema aufgreift, kommt eine Masse an herablassenden, respektlosen und ekelhaften Kommentaren. Für den Tod von Shelby Lynn bietet zum Beispiel jemand 200.000 Dollar und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Frauen, die von ihren Erfahrungen berichten, werden lächerlich gemacht, als fame-geile Lügnerinnen hingestellt, beleidigt, bedroht und als selbst schuld abgestempelt. 

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Unter den Beiträgen von Shelby Lynn finden sich zahlreiche solcher Kommentare:

"because you have no control when you are drinking doesnt mean that someone spiked you, seriously, you are just embarrassing yourself. obviously you drank, you did probably drugs and you was falling like stupid right and left. Is more likely that the "no" came from Till and now you try to take revenge because he rejected you. "
"girl! it can be seen that you have psychological problems..depression? borderline disorder? and it can be seen that you definitely have experience with drugs. yeah, alcohol and depression don't go together for some people... maybe they rejected you and now you're throwing dirt."
"Also everyone report her cause clearly she has no brain cells and will keep trying to defame Rammstein for her own five minutes of fame and a few likes"

Da ist also eine Frau mit Verletzungen bei denen sie nicht weiß, woher sie kommen und dem Verdacht, K.O. Tropfen verabreicht bekommen zu haben. Ob du das jetzt direkt glaubst oder nicht - sollte da nicht der aller erste Impuls Empathie sein? Woher kommt dieser Zynismus und Hass? Warum wird sie nicht ernstgenommen?

Und ja, dazwischen gibt es auch viele Kommentare, in denen die Frauen, die sich geäußert haben, verteidigt werden, in denen ihnen Mitgefühl und Solidarität ausgesprochen wird. 

Aber dann geht es eben auch wieder so weiter:


"Poor babe, I'd recommend you to quit alcohol if you have a blackout after tequila shot( and what a lame to try make a cheap hype on a famous name."
"Sie postet solche Bilder, bietet sich förmlich an und ist überrascht, dass es hinter der Bühne kein Kaffeekränzchen gibt? Wenn eine Frau auf dicke Eier macht,dann kann sie auch einem Till Lindemann Nein sagen. Wie viele Drinks hatte sie vorher? Und die blauen Flecken sind selbstgemacht. Ich habe Till kennengelernt und die Frau lügt!"


Die Devise lautet also: Sie lügt und ist gleichzeitig selbst Schuld?

Genau diese Reaktionen führen dazu, dass so wenig Frauen über ihre Erfahrungen sprechen. Jede siebte Frau wird Schätzungen zufolge Opfer schwerer sexualisierte Gewalt, nur fünf bis 15 Prozent davon heißt es, werden angezeigt. Und das perfide daran ist: Dieselbe Sorte Menschen, die Frauen als Lügner*innen oder selbst schuld abstempeln und damit Einfluss darauf haben, dass so viele Opfer so lange schweigen, pochen an anderer Stelle darauf, dass das ja alles so unglaubwürdig sei, weil Vorfälle schon länger her sind - denn: Warum kommen sie denn erst jetzt mit der Geschichte an??? Ein Teufelskreis.

Und überhaupt: Sind die vielen Erfahrungsberichte wirklich so unglaubwürdig?

Ist es wirklich so unvorstellbar, dass ein berühmter, erfolgreicher Musiker seine Macht gegenüber jungen Fans ausnutzt? Das war beispielsweise schon Thema in Zusammenhang mit David Bowie, The Rolling Stones, Led Zeppelin, Jerry Lee Lewis, Elvis Presley, R. Kelly oder Ryan Adams - auf der einen Seite steht ein junges Fangirl, auf der anderen Seite ein berühmter Weltstar, mit Manager*innen, Sicherheitspersonal und jeder Menge Kontakten und Geld. Da ist immer ein Machtgefälle und meist geht es eben in erster Linie nicht um Geschlechtsverkehr - den die Stars auch anders haben könnten - sondern darum, eine Überlegenheit auszunutzen.

Heißt das aber, Frauen, die in die Row Zero, ins Backstage oder zu Konzertpartys gehen, müssen wissen "dass das kein Zuckerschlecken wird" oder "dort nicht nur Mau Mau gespielt wird"? Lässt das Opfer etwa weniger zu Opfern oder Täter weniger zu Tätern werden?

"weiß nicht ob das stimmt aber wenn man sieht wie die frauen ihre brüste zeigen sind sie ja offen nicht unbedingt abgeneigt …. 😀"
"I'd bet it could be true though! But if so, what did you expect?? You pro-actively pushed yourself into the pre- and afterparty and expected to talk with Richard about guitar pedals for 3 hours? Or with Till about your daily job?"
"If you are invited like a GROUPIE ( this already existed 1964 with the Rolling Stones, so just inform yourself before the comcert!! ).. why you assume that you will be not treated like a GROUPIE?? Why pretend you to be so innocent or naive??! -It is lately clear if you get your dresscode.. / or meet the other girls. Nobody forced you, you admitted it.. why get you embarrassed now?? And just do not drink. Then it will not happen.."

Aber "es war halt schon immer so" ist auch hier kein Argument. Wenn es doch seit Jahrzehnten so ist, warum wollen Menschen dann dieses System aufrechterhalten, anstatt jetzt für eine Veränderung zu kämpfen? Die Anschuldigungen die im Raum stehen, sollten wir doch alle furchtbar finden - egal ob das schon immer so war oder nicht. 

Und ein "es war schon immer so" rechtfertigt auch keine Empathielosigkeit. 

Warum sollte man denn das, was beispielsweise Kayla Shyx beschreibt, bei einer Aftershowparty erwarten? "Niemand ist schockiert von wilden Partys", sagt Rezo ganz richtig in seinem Video zu der ganzen Thematik. Es wird aber der Vorwurf erhoben, dass junge Frauen ohne ihr Wissen Teil eines Sexcastings sind, unter Drogen gesetzt und missbraucht werden. Das soll man erwarten, wenn es heißt, man kann sein Idol bei einer Party treffen? Es ist ja nicht so, als gäbe es keine Aftershowpartys ohne sexuelle Übergriffe. Oder, als würde es Übergriffe nur in bestimmten Räumen geben. Potentiell kann überall ein Übergriff stattfinden - wenn die Verantwortung beim Opfer liegt, müsste Frau sich also alleine daheim einsperren, um sich zu schützen.

Kayla Shyx beschreibt ihre Erfahrungen von einer Rammstein-Aftershowparty sehr detailliert: 


Aber man kann ja trotzdem noch einfach jederzeit aufstehen und wieder gehen, oder?

Manch eine könnte das, manch eine hat das gemacht, viele andere können es nicht. Es scheint, als wäre alles darauf ausgelegt, dass die Mädchen getäuscht, überrumpelt, eingeschüchtert und unter Drogen gesetzt werden, um diese Wehrlosigkeit dann auszunutzen. Ich habe selbst schon so viele Situationen erlebt, in denen ich mich nicht getraut habe, nein zu sagen - und das in weit harmloseren Momenten. Beschreibungen zufolge mussten bei den Partys die Handys abgegeben werden, es soll Security gegeben haben, es soll Druck aufgebaut worden sein und es heißt, es waren Alkohol und Drogen im Spiel. Das muss so viel Mut kosten, unter diesen Umständen nein zu sagen und sich selbst aus dieser Situation wieder zu befreien - und wenn K.O. Tropfen im Spiel sind, ist das ab einem gewissen Zeitpunkt auch schlicht und einfach nicht mehr möglich. 

Rechtskräftiges Urteil or it didn't happen?

Die Stadt München hat die Row Zero für die vier Konzerte im Olympiastadion verboten. Und das stößt vielen auf - denn wie kann man es wagen, auf Vorwürfe zu reagieren, bevor ein rechtsgültiges Urteil von einem Gericht gesprochen wurde. 

"unhaltbare Vorwürfe, die bisher nicht ermittelt, aufgeklärt und gerichtlich bestätigt wurden."
"Ich höre diese Musik nicht aber wurde der Sänger rechtsgültig für irgendwas verurteilt in dieser Form oder sind das erstmal nur Vorwürfe? Macht ja doch einen großen Unterschied oder?"


Klar macht das einen Unterschied, aber was soll das im Umkehrschluss bedeuten?

Bis das nicht passiert ist, wird erstmal niemandem geglaubt und es darf keinerlei Reaktion geben? Bis ein Gericht die Vorwürfe nicht bestätigt hat, sollten wir alle das Thema ignorieren und in Kauf nehmen, bis dahin Frauen potentiell in Gefahr zu bringen? Wieder: Was sagt das all den Frauen, die sich nicht trauen, zur Polizei zu gehen oder aber denen, die diesen Mut gefunden haben und es kam aber trotzdem nicht zu einem rechtskräftigen Urteil? "Das ist nicht passiert, weil es kein*e Richter*in bestätigt hat?" Ist das das Signal, das gesendet werden soll? 

Die Sache mit der Unschuldsvermutung

Paulina Krasa erklärt den Begriff in einem Reel gut:

"Die Unschuldsvermutung ist also ein Grundprinzip des rechtsstaatlichen Strafverfahrens. Das heißt, bis in einem Prozess der Nachweis der Schuld erbracht ist, ist die Person als unschuldig zu betrachten. Was es aber nicht heißt, ist, dass die Person bis dahin für ihr mutmaßliches Verhalten keine Konsequenzen tragen muss."

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Aber abgesehen davon, dass die Unschuldsvermutung nicht jegliche Reaktion untersagt - die Unschuldsvermutung sollte auch immer noch auf beiden Seiten gelten. Warum wird sie auf den Täter angewendet, nicht aber auf das Opfer, dem sofort unterstellt wird, zu lügen. Das allein ist ein heftiges Ungleichgewicht, zu welchem es so bei keiner anderen mutmaßlichen Straftat so oft und so schnell kommt. 

Keine Beweise, keine Tat

Das ist der Standpunkt von vielen. Das müsste aber bedeuten: Zu jeder Tat gibt es Beweise und jeder sexuelle Missbrauch, der zur Anzeige gebracht wird, führt damit auch zur Verurteilung. Aber das ist eben einfach Quatsch, ganz besonders sexuelle Übergriffe sind so verdammt schwer zu beweisen - oft heißt es am Ende Aussage gegen Aussage. Das zeigt uns: Das Thema ist sehr viel komplexer, als "Rechtskräftiges Urteil or it didn't happen" zu sagen. Und ich bin mir sicher, dass das auch die meisten Menschen verstehen würden, wenn sie nur ein paar Minuten länger und etwas reflektierter über das Thema nachdenken würden, als es ein hingeschmiertes Instagram-Kommentar verlangt. 

Nur weil ein Gericht noch kein Urteil gefällt hat oder vielleicht aus Mangel an Beweisen oder was auch immer keines mehr fällen wird, heißt das nicht, dass etwas nicht trotzdem passiert sein kann. Kayla sagt am Ende ihres Videos:

"Ich weiß nicht warum so viele so einfach lieber einem 60-Jährigen, der Gedichte über Vergewaltigung schreibt - dass ihr lieber so einen Mann verteidigt, nur weil ihr seine Musik mögt, anstatt den ganzen Mädchen zuzuhören, die sagen, sie sind verblutet aufgewacht, sie können sich an nichts erinnern. Man sollte dann sich auch mal seine Werte innerlich checken, was einem wichtiger ist - die Sicherheit von Mädchen oder sein Idol, weil man seine Kunst mag."



Wir brauchen mehr Weitblick, Reflektion und vor allem Empathie

Denn es ist ganz klar auch Aufgabe der Gesellschaft dafür zu sorgen, dass das ganze Thema nicht wieder im Erdboden versickert und alles weiterläuft wie zuvor. Es geht nicht nur um eine der größten deutschen Bands ever - sexuelle Gewalt ist schließlich kein Einzelfall - sondern um ein riesiges strukturelles Problem. Und uns sollte doch allen daran gelegen sein, dass sexueller Missbrauch aufgeklärt und in Zukunft bestmöglich verhindert wird. Aber wenn sich der Umgang mit vermeintlichen Opfern nicht endlich ändert, ist das schlicht nicht möglich. 



Wenn du selbst betroffen bist, findest du zum Beispiel hier Hilfe:


Wenn du deine Geschichte gerne anonym teilen oder die Erfahrungen von anderen lesen willst, kannst du außerdem beim Sirens Collective vorbeischauen.

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