Zeit ist eine Illusion – mit Bonobo erst Recht.
Sie tickt unaufhaltsam und fühlt sich doch dehnbar wie Kaugummi an: Die Zeit und wie wir sie empfinden ist trotz aller technischen Hilfsmittel immer noch ein ziemliches Mysterium.
So können sich Tage zwischen den Jahren wie Äonen anfühlen und dann doch gleich wie mit einem Fingerschnips vorbei sein. Und während eine Stunde im Zoom Meeting die Geduld gerne mal strapaziert, kann eine Stunde auf der Tanzfläche mit der richtigen Musik wie ein viel zu kurzer Augenblick verfließen. Dieses Phänomen dürfte jedem*r bekannt vorkommen, der*die schon einmal ein Bonobo Konzert verfolgt hat. Und auch sein neues Album Fragments geleitet in einen Zustand von zeitloser Trance.
Trance und Zeitreise
Bonobo wirbelt gleich nicht nur das Zeitgefühl durcheinander: Fragments schüttelt auch musikalische Epochen ziemlich durch. "Shadows" darf gleich zu Beginn der Platte Rhodes Piano mit futuristischen Synthie-Arpeggios zusammenbringen. Dazu kommt noch Jordan Rakeis melancholisch ausgedehnter Gesang und ein unwiderstehlich subtiler Beat - schon setzt diese hypnotisch- transzendierte Tanzstimmung ein, mit der Bonobo sich längst in alle Herzen gespielt hat.Man könnte sich fast wundern, warum das Album Fragments heißt, der Titel deutet ja eher etwas aus Bruchstücken Zusammengesetztes an. Gut möglich, dass es sich für Simon Green auch so angefühlt hat, schließlich musste er die Platte im Chaos der seit zwei Jahren aktuellen Situation aufnehmen und konnte seine Gastmusiker*innen nur über die Webcam sehen.
Aber das fertige Fragments hat nichts Bruchstückhaftes: Es ist ein Album wie aus einem Guss.
Bonobo verlässt sich aber nicht nur auf die alten Hypnosetricks: Er schafft auch Großes, wenn er den Flow mal unterbricht. Nach dem sehr tanzbaren Einstieg legt "Tides" mit Glocken und Harfenklängen eine kurze, aber beeindruckende Pause ein: Quasi der perfekte Song, wenn man sich früher im Club eine Auszeit von der Tanzfläche nehmen wollte, um einfach mal verstrahlt in den Sternenhimmel zu schauen. Und auch "Elysian" darf die akustische Träumerei mit wundervollen Streichern weiterführen, bis "Closer" sanft aber bestimmt wieder zurück auf die Tanzfläche geleitet.
Vielseitig einprägsam
Dass Bonobo ein ganz großer Klangkünstler ist, dürfte eigentlich niemanden mehr überraschen. Trotzdem sind Songs wie "Age of Phase" immer noch akustische Offenbarungsmomente: Synthieklänge klackern durch das gesamte Spektrum, der Beat beginnt organisch und entwickelt digitale Wucht, tiefer Bass setzt ein und verfremdete Stimmensamples flirren um die Ohren. Doch keines dieser Elemente überfordert oder verwirrt: Bonobo gibt allen Klangspielereien den genau richtigen Platz im Song.Genauso geschmackvoll geht er mit seinen Gäst*innen um: Labelkollege Jordan Rakei bringt genug Melancholie in seiner Stimme rüber, um dem ganzen Album seine Stimmung zu geben. Miguel Atwood-Fergusons Name taucht zwar nur im ersten Song explizit auf, seine Streicher sind aber auf der ganzen Platte so etwas wie die edle Vollendung. Und ungefähr neun Jahre nachdem Joji auf seinem YouTube-Kanal das Harlem Shake Meme auf die Welt losgelassen hat, vollendet er mit Bonobos Hilfe auf "From You" endgültig seine Verwandlung zum ernstzunehmenden Musiker. Das Herzstück von allem sind aber die Textzeilen von Jamila Woods. Von diesen war Bonobo so inspiriert, dass daraus nicht nur der Song "Tides" wurde - für ihn wurde gleich eine ganze Vision für Fragments präsent.
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