Von Gloria Grünwald (Interview) | Miriam Fischer (Artikel)
Am 4. April wurde Finnland in die NATO aufgenommen, wodurch sich die gesamte Sicherheitsstruktur im Norden Europas verändert – Expert*innen sprechen von einem geopolitical gamechanger.
Stefan Scheller ist Sicherheits- und Verteidigungsexperte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Im Interview hat er unter anderem darüber gesprochen, welche Auswirkungen die Erweiterung hat und welche Rolle Deutschland innerhalb der NATO spielt.
Stefan Scheller im Interview
Das komplette Gespräch zum Anhören
Finnlands NATO-Beitritt
Zum einen wird die direkte Grenze zwischen NATO-Staaten und Russland durch den Beitritt Finnlands sehr viel länger, zum anderen bedeutet der Beitritt mehr Sicherheit für die baltischen Mitgliedstaaten. Denn aufgrund der geografischen Lage Finnlands würde ein potenzieller Angriff Russlands auf das Baltikum schneller und besser verteidigt werden können. Auch weilFinnland gut ausgebildete, erprobte und modern ausgestattete Streitkräfte beisteuert, ist der Beitritt ein großer Mehrgewinn für die NATO. Stefan Scheller nennt es einen historischen Schritt für die NATO.
Wie die NATO entstanden ist, wie sie sich über die Jahre verändert hat und welche Ziele sie heute verfolgt, erfährst du hier im egoFM Reflexikon. Dass Russland als Reaktion auf den Beitritt nun auch Finnland angreift, hält Stefan Scheller für unrealistisch, immerhin gilt in der NATO die Beistandspflicht, das heißt ein Angriff auf ein Mitgliedsstaat gilt als Angriff auf alle Mitgliedstaaten. Außerdem sind Russlands Streitkräfte im Moment in Ukraine im Einsatz. Einschüchterungsversuche der finnischen Bevölkerung oder Cyberangriffe sind allerdings schon im Bereich des Möglichen, ergänzt er.
"Was vielleicht in dem Zusammenhang aber eigentlich wichtig zu betonen ist, ist, dass Putin sein bisheriges Ziel eben überhaupt nicht erreicht hat, das heißt genau das Gegenteil: Er wollte ja weniger NATO-Präsenz in Europa und jetzt hat er mehr." - Stefan Scheller
Angesichts der letzten Jahre - 2008 der russische Angriff auf Georgien, 2014 die Annexion der Krim, 2022 die Ausweitung des Angriffs auf gesamt Ukraine - hat Stefan Scheller eine klare Position bezüglich der Militärpräsenz an der NATO-Ostflanke:
"Nach meiner Einschätzung kann man da nur zu dem - wenn auch traurigen, aber dann doch so notwendiger Weise zu treffenden - Schluss kommen, dass der Westen gar keine andere Wahl hat, als an der Ostflanke abzusichern, eine verstärkte Vornepräsenz auch zu garantieren. Das heißt, so schwer es fällt, eine glaubwürdige Abschreckung und eine wirksame Verteidigung sind das Gebot der Stunde." - Stefan Scheller
In Ansätzen wird genau das auch schon geleistet, zum Beispiel für das Baltikum, aber auch da wäre eine Stationierung von mehr Soldat*innen sinnvoll, so Stefan Scheller.
Die Rolle Deutschlands in der NATO
Ein Ziel der NATO ist es, dass die Mitgliedsstaaten bis 2024 zwei Prozent ihres jeweiligen Bruttoinlandsproduktes für Verteidigung ausgeben - beziehungsweise sich zumindest diesem Ziel annähern - und damit das Bündnis stärken. Deutschland liegt darunter und kann laut dem Inspekteur des Heeres, Alfons Mais, angesichts des aktuellen Zustands der Bundeswehr nur bedingt die eigenen Zusagen an die NATO erfüllen.
Das verstärkt natürlich die Kritik, Deutschland würde nicht genug Verantwortung innerhalb der NATO übernehmen.
Grundsätzlich ist diese Kritik zutreffend, sagt Stefan Scheller. Zur Landes- und Bündnisverteidigung ist Deutschland im Moment nicht fähig, das zwei Prozent-Ziel wird dauerhaft verfehlt, ebenso wie die Investitionsquote von 20 Prozent. In den aktuellen Zustand der Bundeswehr spielt auch das Sondervermögen eine Rolle: Von den 100 Milliarden Euro bleiben nach Expert*innenschätzung nach Abzug von Mehrwertsteuer, Zinsen und Inflation 50 bis 70 Milliarden Euro übrig. Abseits dieses Sondervermögens gibt es keine steigende Haushaltslinie und bisher ist fast nichts von dem Geld bei der Truppe angekommen. Das heißt:
"Ehrlicherweise hat die Truppe ein Jahr verloren, steht blanker da als Anfang letzten Jahres. Die Zeitenwende bislang ist ein Lippenbekenntnis." - Stefan Scheller
Das passt nicht zu der Behauptung, Deutschland sei bald die größte konventionelle NATO-Armee in Europa und hätte ab 2025 eine vollausgestattete und einsatzbereite Heeresdivision, stellt Stefan Scheller klar. In manchen Bereichen leistet Deutschland aber einen sehr guten Beitrag, beim NATO-Militärhaushalt ist Deutschland beispielsweise der zweitgrößte Beitragszahler, ergänzt er.
Wer folgt auf Generalsekretär Jens Stoltenberg?
Ende des Jahres steht eine weitere Veränderung innerhalb der NATO an: Die Amtszeit des Generalsekretärs Jens Stoltenberg endet am 30. September 2023. Der oder die Kandidat*in für die Nachfolge wird einstimmig von allen Mitgliedstaaten für vier Jahre berufen - wer das sein wird, wird vermutlich beim NATO-Gipfeltreffen im Juli bestimmt wird. Neben anderen Auswahlkriterien wünschen sich viele Staaten eine Frau, außerdem sollte die Person zuvor bereits Staats- oder Regierungschef*in gewesen sein.
Im Raum stehen die Präsidentin der Slowakei Zuzana Čaputová, Ministerpräsidentin Estlands, Kaja Kallas, auch Ursula von der Leyen könnte es werden, auch wenn ihre Amtszeit als Präsidentin der Europäischen Kommission noch bis Dezember 2024 läuft. Da der*die militärische Oberbefehlshaber*in immer von den USA gestellt wird, wird der oder die Generalsekretär*in aber auf jeden Fall aus Europa kommen.
Artikel teilen: