Die aktuelle Situation auf dem Mittelmeer spitzt sich zu, die Zahl der Menschen, die auf der Flucht sterben, ist wieder massiv angestiegen. Doch nach wie vor gibt es keine gemeinsame Lösung der EU-Mitgliedsländer.
radiowelt
21.04.2023
Was tun gegen die Situation im Mittelmeer?
Julian Pahlke im egoFM Reflex Interview
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Julian Pahlke im InterviewDas komplette Gespräch zum Anhören
Die aktuelle Situation auf dem Mittelmeer spitzt sich zu
Über 440 Menschen sind in den ersten drei Monaten des Jahres 2023 bereits bei der Flucht über das Mittelmeer gestorben. Laut den Vereinten Nationen so viele, wie seit 2017 nicht mehr. Eine europäische Lösung auf EU-Ebene konnte in all den Jahren nicht gefunden werden. Eine Erklärung zu finden, warum die Zahlen wieder so hoch sind, ist laut Julian Pahlke gar nicht so leicht, denn am Ende sind es viele Gründe, die Menschen zur Flucht zwingen und sich über die Zeit verändern. Er nennt allerdings die Klimakrise, die sich immer weiter zuspitzt als Faktor, ebenso wie den Krieg Russlands gegen die Ukraine oder auch die Knappheit an Lebensmitteln.Die Rolle Italiens für die zivile Seenotrettung
Das Thema ist Julian Pahlke unter anderem deshalb so wichtig, weil er früher selbst als Vollzeitaktivist auf dem Mittelmeer unterwegs war und gesehen hat, wie nötig Seenotrettung ist.Allerdings scheitern gemeinsame Einsätze der EU-Staaten immer wieder.
2019 wurde die letzte Seenotrettungsorganisation "Sophia" erst auf Luftaufklärung beschränkt, 2020 dann komplett eingestellt. Auch die Nachfolgemission konzentriert sich auf Luftaufklärung. Der Druck auf die Mitgliedsländer steigt, vor allem weil Italien wegen hoher Geflüchteten-Zahlen – seit Anfang des Jahres waren es dort 30.000 – den nationalen Notstand ausgerufen hat und deshalb immer wieder Solidarität von anderen Staaten fordert. Allerdings hat Italien auch gleichzeitig ein neues Gesetz erlassen, das die Arbeit von zivilen Rettungsorganisationen extrem behindert. Danach müssen Schiffe nämlich ein Gebiet nach erster erfolgter Rettung verlassen und den zugewiesenen Hafen anlaufen, auch wenn noch weitere Menschen in Seenot stecken."Das ist natürlich in aller erster Linie dazu gedacht, Seenotrettung zu behindern und zu verhindern, damit möglichst wenig Menschen in Italien ankommen. Das muss man als Motivation der italienischen Regierung ehrlich gesagt unterstellen. [...] Aber es gehört natürlich auch zur Wahrheit dazu, dass Italien in den letzten Jahren natürlich auch alleine gelassen worden ist. [...] Man muss das auch zusammen sehen, dass wir einfach keine europäische Antwort gefunden haben auf diese Situation und die italienische Regierung jetzt einen völlig falschen Schluss daraus zieht und glaubt, auf die Retter*innen eindreschen zu müssen." – Julian Pahlke
Wie Seenotrettung generell aussehen muss und wie sie sich entwickelt hat, erfährst du hier im egoFM Reflexikon.
Wird die zivile Seenotrettung auch durch das Bundesverkehrsministerium behindert?
Nicht nur aus Italien kommen Hindernisse für Seenotrettungsmissionen. Das Bundesverkehrsministerium plant eine Änderung in der Schiffssicherheitsverordnung. Es soll höhere Sicherheitsstandards für die Schiffe geben, sodass viele Organisationen ihre Flotte für viel Geld nachrüsten müssten oder Schiffe nicht mehr auf See schicken dürften. Das könnte die Situation für die zivile Seenotrettung erschweren. Im Koalitionsvertrag der Ampel steht aber drin, dass die zivile Seenotrettung nicht behindert werden darf. Laut Julian Pahlke passt das überhaupt nicht zusammen."Das passt natürlich überhaupt nicht zusammen. Der Vorschlag, der aus dem FDP-Verkehrsministerium kam, ist nicht vom Koalitionsvertrag gedeckt und unsere Erwartung ist an den Verkehrsminister, dass diese Verordnung, über die wir als Ampel auch noch nicht beraten haben, er noch einmal da drüber geht und dafür sorgt, dass die Schiffe der zivilen Seenotrettung unter keinen Umständen an der Arbeit gehindert werden. Sondern ganz im Gegenteil wir müssen uns darauf fokussieren, die Organisationen zu unterstützen und dafür zu sorgen, dass weniger Menschen im Mittelmeer ertrinken." – Julian Pahlke
Legale Fluchtwege statt Flüchtlingsabkommen
Einige Stimmen in der europäischen Politik fordern als Lösung Flüchtlingsabkommen mit nordafrikanischen Staaten wie Libyen oder Tunesien, ähnlich wie es sie schon mit der Türkei gibt. Davon hält Julian Pahlke wenig. Denn oft geht damit einher, dass Geflüchtete, die zurückgebracht werden, es über andere – noch gefährlichere Routen versuchen.Wieder andere fordern stattdessen sichere und legale Fluchtwege nach Europa, sodass die Menschen gar nicht erst die gefährliche Überfahrt über das Mittelmeer auf sich nehmen müssen.
Das müsse, so Julian Pahlke, eigentlich auch die Logik sein."Wenn eine Fluchtroute gefährlicher wird, dann weichen Menschen auf andere Routen aus, die möglicherweise genauso gefährlich oder noch gefährlicher sind. Wenn Menschen nach Libyen zurückgebracht werden, dann suchen sie sich andere Routen und das waren in den letzten Jahren Routen vom Senegal in Richtung der Kanaren oder von Marokko in Richtung der Kanaren und diese Routen sind noch tödlicher als es das zentrale Mittelmeer ist. Und aus dieser Logik heraus, kann man eigentlich nur zu dem Schluss kommen, dass man sichere Fluchtwege zur Verfügung stellen muss. [...] Wir haben dafür Mechanismen, aber die werden in ganz ganz kleiner Zahl angewandt. Auch die Bundesregierung, das Innenministerium, stellt dafür [...] viel zu wenig Plätze zur Verfügung. Das sind einige tausend, während gleichzeitig viele zehntausend Menschen versuchen über das Mittelmeer zu kommen." – Julian Pahlke
"Wir können Flucht nicht verhindern"
Manche nennen als Lösung für Flucht auch Ursachenbekämpfung. Das heißt, etwas gegen die Gründe, wegen der Menschen fliehen, zu unternehmen. Das sind oft allerdings Maßnahmen, wie zum Beispiel Klimaschutz, die nicht so von heute auf morgen umgesetzt werden können, beziehungsweise deren Auswirkungen man erst nach einigen Jahren spürt. Es braucht deshalb akute Maßnahmen, fordert Julian Pahlke."[...] Wir können Flucht nicht verhindern, denn Flucht ist längst eine globale Realität und damit müssen wir leben und arbeiten. [...] Nur knapp 2% - jetzt durch den Krieg gegen die Ukraine jetzt etwas mehr - global gesehen machen sich am Ende auf den Weg in Richtung Europa und das ist dann eine verschwindend geringe Zahl, über die wir da reden, aber eben eine, die diesen Schutz braucht und eine Europäische Union mit ihren Werten muss diesen Menschen dann auch diesen Schutz zur Verfügung stellen." – Julian Pahlke
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