Die Ausschreitungen in Chemnitz

Die Ausschreitungen in Chemnitz

Wie konnte das passieren?

Was zurzeit in Chemnitz passiert, klingt nach einem bösen Alptraum. Wir liefern dir den Überblick und Reaktionen.

Geschockt haben wir die Ereignisse der letzten Tage in Chemnitz verfolgt.

Dass sich Rechtsradikale zusammenrotten und extreme Parolen grölen - und das sichtbarer als je zuvor in den letzten Jahren - ist 2018 offenbar traurige Realität. Jetzt liegt es an allen von uns, sich klar gegen Rechts zu positionieren. Starke Reaktionen gegen Rechts gibt es schon zahlreiche in Politik, Musik und Netz.

Was ist genau passiert?

Als in der Nacht auf Sonntag ein deutscher Mann in Chemnitz erstochen wird, rufen rechte Aktivisten und Gruppen zu Demonstrationen auf. Knapp 1.000 Menschen folgen dem Aufruf, viele von ihnen erkennbar rechtsextrem. Mehrere ausländisch aussehende Menschen werden von den Demonstranten bedroht.
Am Montag werden ein Syrer und ein Iraker als Tatverdächtig beschuldigt und es werden Haftbefehle erlassen. Die rechte Bürgerbewegung Pro Chemnitz ruft am Montagabend erneut zu einer Demonstration und Kundgebung mit dem Motto: "Zeigen, wer in der Stadt das Sagen hat" auf. Unter dem Deckmantel eines offiziellen Trauermarsches für das Opfer. Doch eine Trauerfeier sieht anders aus.

Linke Gegendemonstranten in der Unterzahl

Mit Parolen wie "Wir sind das Volk" oder "Das hier ist unsere Stadt" protestierten circa 5.000 Anhänger der Parteien der Dritte Weg oder der NPD gegen die Ermordung von Daniel H. Ein großes Banner hängt an dem Karl-Marx-Monument mit der Aufschrift "Deutsch und frei wollen wir sein". Immer wieder grölen die Demonstranten "Ausländer raus" und halten Plakate in die Luft auf denen geschrieben steht "Wir sind bunt, bis das Blut spritzt oder Multikulti tötet". Dann der Hitlergruß direkt neben Polizisten - von einer Bewegung, aus der viele betonen sie seien nicht rechts.   

Die Parteien die Linke und die Grünen starten eine Gegendemonstration "Chemnitz Nazifrei" gegenüber des Denkmals von Karl Marx im Stadthallenpark. 1.000 Linke versammelten sich und skandieren: "Wir haben Kuchen, was habt ihr?" – sie sind deutlich in der Unterzahl.

Das Bild spricht für sich: Auf der einen Seite am Kopf von Karl Marx die Rechten und auf der anderen Seite im Stadthallenpark die Linken. Eine gespaltene Stadt. Aber hier geht es nicht nur um Chemnitz oder um links gegen rechts. Hier geht es um Rechtsradikalismus. Was in Chemnitz passiert ist, geht alle, die in einem demokratischen Deutschland leben wollen, etwas an.

Dann die erste Eskalation, als der rechte Mob in Richtung Gegendemonstration drückt, die hinter Polizeibussen die Mittelfinger in die Höhe strecken und lauthals "Nazis raus!" rufen. "Abschieben" dröhnt es zurück. Man hört Glas klirren, Flaschen und Böller werden geworfen.

Am Montagnachmittag noch zuversichtlich

Die Polizei – überfordert. Als die Rechten sich in Bewegung setzen und einen nicht angemeldeten Marsch durch Chemnitz starten wollen, gelingt es der Polizei nicht, diesen aufzuhalten, sondern nur nebenher zu laufen.
"Am zweiten Abend in Folge war die Polizei in Chemnitz offensichtlich nicht in der Lage, gut organisierte braune Horden in die Schranken zu weisen", sagt Burkhard Lischka, innenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion gegenüber der Berliner Zeitung. 

Noch am Montagnachmittag klingt die Chemnitzer Polizeipräsidentin Sonja Penzel zuversichtlich:
"Wir sind auf die Einsatzlage heute Abend gut vorbereitet. Wir haben ausreichend Kräfte angefordert und wir werden mit der Stadt gemeinsam den Schulterschluss üben und nicht zulassen, dass Chaoten diese Stadt für ihre Zwecke vereinnahmen können."

Doch es passiert nichts. Zwei Wasserwerfer der Polizei kommen nicht zum Einsatz - die Durchsage: "Wir fordern Sie auf, jegliches gewalttätiges Verhalten einzustellen, ansonsten werden wir Wasser gegen Sie einsetzen", verhallt ungehört. Wenn offensichtliche Straftaten begannen werden sollten, ist die Ansage: Personalien aufnehmen und laufen lassen. Insgesamt zehn Verstöße in Form von Hitlergrüßen sind mittlerweile bekannt und die Ermittlungen dementsprechend eingeleitet.

5.000 im rechten Lager und 1.000 im linken – dazwischen gerade einmal 591 Polizisten. Die Bilanz: 18 Versammlungsteilnehmer und zwei Polizisten wurden verletzt, sowie 43 Straftaten registriert.




Angst auch in anderen Städten

"Wir haben alles verriegelt und verrammelt", sagt Axel Steier von der Seenotrettungs-Organisation Mission Lifeline  im Gespräch mit jetzt.de. Er fürchtet nun auch Ausschreitungen in Dresden, nachdem rechte Gruppen eine Mahnwache am Dienstag vor dem sächsischen Landtag angemeldet haben. Die Büros von Lifeline liegen in der Dresdner Neustadt – nicht weit vom geplanten Start der rechten Kundgebung. Bei vergangenen Kundgebungen kam es immer mal wieder zu Sachbeschädigungen und Randalen.
Jetzt, nach Chemnitz, ist klar, dass die Polizei keinen ausreichenden Schutz bieten kann. Mission Lifeline auf Twitter:


Widerstand gegen das was sie tun, seien Axel und seine Kollegen gewohnt. In Dresden gibt es eine gewaltbereite Hooligan-Szene mit etwa 3.000 Mitgliedern, die auch schon in den Anfängen bei Pegida mitgelaufen sind. Der Gedanke, den Vereinssitz zu verlegen, beschäftigte sie schon eine ganze Weile. Teile der Verwaltung seien sogar schon an einen geheimen Ort umgesiedelt – "Der Verfolgungsdruck für Neonazis von Seiten der Justiz ist relativ gering. Das ist das Hauptproblem."




Politiker und Bundesregierung verurteilen Aufstände

Cem Özdemir, Ex-Chef der Partei Bündnis 90/die Grünen, sagte gegenüber der Welt:
"Dass die selbst ernannten 'besorgten Bürger' blindlings Nazis hinterherlaufen, ist schlimm genug", und weiter: "Aber dass in Chemnitz nun auch Hetzjagden auf Menschen gemacht und der Hitlergruß vor den Augen von Polizei und ganz offen in die Kamera gezeigt wird, das hat mich entsetzt."

Die Bundesregierung ließ über den Regierungssprecher Steffen Seibert verlesen:
"Solche Zusammenrottungen, Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens, anderer Herkunft, oder der Versuch, Hass auf den Straßen zu verbreiten, das nehmen wir nicht hin."

Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) auf Twitter:
"Es ist widerlich, wie Rechtsextreme im Netz Stimmung machen und zur Gewalt aufrufen. Wir lassen nicht zu, dass das Bild unseres Landes durch Chaoten beschädigt wird."



Solidarität von allen Seiten

Aus Hamburg hat sich nun der Künstler Tobias Vogel, der hinter den Strichmännchencomics Krieg und Freitag steckt, mit einer schönen Idee über Twitter zu Wort gemeldet. Er will seine Strichmännchen benutzen, um ein Zeichen gegen die Hetze in Sachsen zu setzen. Die Männchen bilden eine Menschenkette, DAS Symbol für Solidarität und Frieden. 
Dahinter steckt gleichzeitig ein Spendenaufruf: Für jede 5€-Spende zeichnet Tobias ein neues Männchen. Das Geld sammelt er für den Sächsischen Flüchtlingsrat. Das Ziel von 1.000 Männchen, also 5.000 Euro, war nach 16 Stunden erreicht. Deswegen ist das Spendenziel nun auf 10.000 Euro angehoben (Stand 28.08. 05:49 Uhr).

Auch aus der Musikszene gibt es starke Stimmen und Aktionen: Künstler wie Casper und Marteria, die unter anderem auch auf dem Jamel rockt den Förster-Festival gegen Rechts aufgetreten sind, haben auf Twitter mitgeteilt, dass sie am Montag, den 3. September am Karl-Marx-Kopf in Chemnitz ein Konzert gegen Rechts geben werden. Der Eintritt ist frei!

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